Im Stonewall Inn in der Christopher Street in New York wehrten sich im Juni 1969 erstmals queere Menschen gegen Diskriminierung und Polizeigewalt, von der sie über Jahre betroffen waren. Als Reaktion auf den Aufstand wurde der Christopher Street Day ins Leben gerufen, der jedes Jahr in zahlreichen Städten auf der ganzen Welt gefeiert wird.
Ein Blogbeitrag von Miriam Matz.
Der Aufstand stellt einen Wendepunkt dar; er gab der queeren Community ein neues Selbstbewusstsein, stolz auf sich selbst zu sein.
Seitdem ist viel passiert: In 25 Staaten ist die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare möglich, in westlichen Industriestaaten sind homosexuelle Handlungen straffrei und queere Beziehungen weitgehend toleriert. Gerade mit der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare in Deutschland 2017 wird die queere Community immer wieder mit der Frage konfrontiert: „Was wollt ihr eigentlich noch – ihr habt doch schon alles?“
Nein, es ist noch längst nicht alles erreicht oder alles gut. Die mühevoll erkämpften Rechte müssen verteidigt werden. Denn noch immer ist „schwul“ nicht nur auf dem Schulhof ein Schimpfwort. Noch immer meinen knapp ein Drittel der Jugendlichen, dass es ekelhaft sei, wenn sich zwei Männer küssen. Noch immer ist die Selbstmordrate unter queeren Jugendlichen erschreckend hoch. Noch immer sind Regenbogenfamilien nicht gleichgestellt. Noch immer sind unsinnige, schädliche „Konversionstherapien“ nicht verboten. Und auch in den Parlamenten gibt es Kräfte, die die erkämpften Rechte und die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare am liebsten wieder abschaffen würden und sich über Transmenschen lustig machen. Zudem steht Homosexualität in zahlreichen Staaten noch immer unter Strafe, in einigen sogar unter Todesstrafe.
50 Jahre nach Stonewall gilt es noch immer, LSBTTIQ* vor Gewalt zu schützen. Der brutale Angriff auf ein lesbisches Paar in einem Londoner Bus im Juni schockiert – und auch in Deutschland ist die Gewalt gegenüber LSBTTIQ* gestiegen. Deshalb muss Hasskriminalität gegenüber LSBTTIQ* endlich wirkungsvoll bekämpft werden und ein bundesweiter Aktionsplan gegen Homo- und Transphobie umgesetzt werden.
Es gibt also noch eine Menge zu tun – und ich habe längst noch nicht alle Baustellen der Queerpolitik genannt. Trotz so vieler Anliegen sind CSDs erstaunlich unpolitisch. Das ärgert mich sehr, obwohl ich gerne zu CSDs gehe. Immer mehr rückt der Partyaspekt in den Vorder-, das Politische in den Hintergrund. Zwar bekommen Aktivist*innen und Politiker*innen auf den Bühnen der Straßenfeste und teilweise auch auf den Demonstrationen Redezeit, doch ein Großteil der Zeit geht für die musikalische Beschallung drauf. Dass dort auch Lieder offen frauen- und queerfeindlicher Musiker*innen gespielt werden, interessiert die Wenigsten. Denn zahlreiche LSBTTIQ* und Aktivist*innen bleiben den CSDs aufgrund der fast ausschließlich unpolitischen Partyatmosphäre à la Loveparade zunehmend fern oder gehen am Rand unter. An den Infoständen der queerpolitisch aktiven Parteien erleben wir mehr Menschen, die sich gerne anmalen lassen oder unsere Regenbogen-Giveaways abgreifen statt uns Fragen zu stellen oder mit Anliegen und Kritik zu konfrontieren.
Das macht für mich deutlich: CSDs sind zu einem Lifestyle-Event, zu einem „lustigen“ Entertainmenttag, an dem mensch sich bedienen darf, geworden. Mit lauter Musik gehen politische Forderungen in einem bunten Regenbogen-Glitzer-Einhorn-Gemenge und Alkohol unter. Gegen eine gewisse Partystimmung, um das Erreichte zu feiern, habe ich nichts. Doch die Anzahl der Sauf- und Fressbuden bei CSDs steigt, dass sich unter den Teilnehmer*innen auch viele Minderjährige befinden, interessiert beim Alkoholausschank niemanden, und den Saftstand sucht mensch vergeblich. Ja, mensch wird schon seltsam angeschaut, wenn mensch in der Hitze vieler CSDs lieber Wasser als Alkohol trinkt und dann wird sich über die ersten Alkoholabstürze junger Menschen gewundert.
All das hat für mich nichts mehr mit dem ursprünglichen Gedanken des Christopher Street Days zu tun. Daher verstehe ich auch, warum Aktivist*innen und LSBTTIQ* CSDs zunehmend fernbleiben. Ich gehe trotzdem hin und hoffe sehr, dass die, die einen politischen CSD wollen, das auch tun. Sonst ändert sich ja nichts.